„Hunger sollte einfach nicht existieren.“ Interview mit der Fotografin Lys Arango

„Hunger sollte einfach nicht existieren.“

Lys Arango ist es auf berührende Weise gelungen, das Leben der Maya, dem indigenen Volk Guatemalas, zu dokumentieren – ihre Ansichten, Hoffnungen und Mühen.

Dazu hat die Fotografin eine tiefe Beziehung zu den Menschen aufgebaut. Wie ihr das gelungen ist und welches Fazit sie nach dem Projekt zieht, erzählt Lys Arango im Interview.

horizonte zingst: Warum Guatemala? Was hat Dich zu „Bis der Mais wieder wächst“ inspiriert?

Lys Arango: In den Medien wird die kriminelle Gewalt in Mittelamerika oft als Ursache für die Flut an Migrantinnen und Migranten herangezogen, die die USA seit 2017 erreicht. Als ich aber 2018 das erste Mal für eine humanitäre Mission nach Guatemala kam, um die problematische Ernährungssituation zu dokumentieren, kamen mir Geschichten von Ungleichbehandlung, Dürren und Hunger zu Ohren.

Ich sah Kinder sterben, und das nicht etwa wegen irgendwelcher Messerstechereien, sondern weil sie mangelernährt waren. Ihre Eltern haben mir erzählt, dass es nur eine Möglichkeit gäbe, der Armut zu entkommen: Migration.

Ich habe mich verpflichtet gefühlt, noch einmal nach Guatemala zu gehen, um alles zu tun, was als Journalistin in meiner Macht steht, um diesen anderen Kampf des Mayavolkes zu dokumentieren. Ich habe mein fotodokumentarisches Projekt mit dem Ziel begonnen, diese subtileren Bilder einzufangen, die allzu oft zugunsten aktionsträchtiger Bilder der Gang-Konflikte oder der eindrucksvollen Flüchtlingsströme in den Norden in den Hintergrund geraten. Ich bin mit der Überzeugung nach Guatemala gegangen, dass kriminelle Gewalt nur die halbe Wahrheit ist, wenn man eine Erklärung für die zentralamerikanischen Auswanderungsbewegungen finden möchte.

Ich habe geglaubt – und ich glaube immer noch –, dass es verschiedene Arten der Gewalt in Guatemala gibt, und dass eine von ihnen zwar weniger sichtbar ist, dass es aber mindestens genauso viel wert ist, über sie zu berichten, wie über das Blut und den Schrecken der Gangkonflikte. Ich bin mit dem tiefen Wunsch nach Guatemala gegangen, den Fokus auf die große Klimamigration zu lenken, die bereits begonnen hat.

Lys Arango über das Leben der Maya

Wie hast Du Dich dem Thema und den Menschen vor Ort genähert?

Ich habe mit zwei Maya-Gemeinschaften im sogenannten „Dry Corridor“ (dt.: dürrer Korridor) gearbeitet, mit dem Ziel, ihr tägliches Leben zu dokumentieren – ihre Ansichten, Hoffnungen und Mühen. Ich habe eine sehr tiefe Beziehung zu diesen Menschen aufgebaut. Das war meine Grundlage dafür, ihren Lebensalltag an jenen Orten zu dokumentieren, an denen Nahrungsmittel und Wasser so knapp sind.

Nahrung der Maya

Aus der Perspektive der Fotografie ist Mangelernährung eine sehr abstrakte Thematik. Wie bist Du fotografisch vorgegangen?

Es ist wirklich schwer, chronische Mangelernährung in Bildern auf direkte Art und Weise darzustellen, weil sie ja vor allem einen Einfluss auf die kognitive Entwicklung derjenigen hat, die unter ihr zu leiden haben. Um also Hunger zu fotografieren, musste ich ihn in einen Kontext setzen. Das habe ich gemacht, indem ich mich auf die eigentlichen Ursachen und die sich daraus entwickelnden Konsequenzen konzentriert habe.

Hunger in Guetemala

Die Diptychen entstanden am Ende Deiner Arbeit – wie ist es dazu gekommen?

Eben weil Mangelernährung so schwer zu veranschaulichen ist, kam mir die Idee, sie über die Diptychen zu kontextualisieren. Auf der einen Seite habe ich Kinder porträtiert, die unter ihr leiden, sowie ihre Eltern, und auf der anderen Seite habe ich Maiskolben fotografiert, die durch das klimatisch bedingte Phänomen El Niño Schäden davongetragen hatten.

Für die Maya, das indigene Volk Guatemalas, ist Mais mehr als ein reines Nahrungsmittel. Er ist ein heiliger Bestandteil ihrer Kultur. Maiz (dt.: Mais) bedeutet wörtlich übersetzt ‚das, was das Leben bewahrt‘. Die Maya-Mythologie erzählt, dass die Menschheit aus dem Mais erschaffen worden ist, und so war auch der Maisanbau eine heilige Pflicht.

Heute haben die Bewahrer und Bewahrerinnen dieser Kultur aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels unter enormen Ernteverlusten zu leiden. Als Folge leidet eines von zwei guatemaltekischen Kindern unter chronischer Mangelernährung – was tatsächlich der höchste Prozentsatz in Lateinamerika ist.

Kinder leiden unter chronischer Mangelernährung

Was war der Moment, der Dich während der Arbeit an „Bis der Mais wieder wächst“ am nachhaltigsten beeindruckt hat?

Wenn die Erntevorräte zur Neige gehen, haben die Familien keine andere Wahl, als ihr Hab und Gut zusammenzupacken und in jene Regionen zu reisen, in denen die großen Kaffee- und Zuckerrohrplantagen angesiedelt sind. Dort arbeiten sie über Monate als Farmarbeiterinnen und -arbeiter – und das meist für ein Gehalt, das weit unter dem offiziellen Minimum liegt.

Während dieser Zeit gehen die Kinder nicht zur Schule, sondern helfen ihren Eltern bei der Arbeit. Die Lebensbedingungen sind rau und sie erinnern mich an die Situation der amerikanischen Migrantenarbeiterinnen und -arbeiter zur Zeit der Großen Depression, die John Steinbeck 1936 in seinem Werk „The Harvest Gypsies“ (dt. „Erntezigeuner“) dokumentierte und veröffentlichte.

Mais mehr als ein reines Nahrungsmittel

Was ist Deine ganz persönliche Schlussfolgerung?

Dass der Klimawandel die sowieso schon empfindliche Situation der indigenen Völker noch weiter verschlimmert hat. Ich denke, dass es heute oft die Tendenz gibt, die Gründe für Tragödien wie Hunger ausschließlich im Klimawandel zu suchen – obwohl es noch weitere Faktoren in der Gleichung gibt, die genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger für die Ursachenforschung sind.

In einem Land, das so prächtig und vielseitig wie Guatemala ist, sollte Hunger einfach nicht existieren. Wenn es eine bessere Aufteilung der Landflächen geben würde, wenn Monokulturen nicht so verbreitet wären, wenn die großen Firmen nicht die Ressourcen plündern würden und wenn die Regierung nicht so korrupt wäre, hätte auch der Klimawandel nicht so starke Auswirkungen auf die Bevölkerung der Maya.

Nahrung der Maya

Das Interview führte Edda Fahrenhorst per E-Mail
Webseite der Fotografin:
www.lysarango.com

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