Das Tier als Individuum soll in seiner Komplexität ins Zentrum gerückt werden Interview mit der Fotografin Manuela Braunmüller

Das Tier als Individuum soll in seiner Komplexität ins Zentrum gerückt werden

Das Skelett vom Huhn bringt uns das Tier auf eine Weise nahe wie wir ihm meistens begegnen: beim Essen.

Die Münchner Fotografin Manuela Braunmüller hat sich über viele verschiedene fotografische Stationen dem Huhn genähert, war in Brütereien, auf Biohöfen, hat beim Schlachten fotografiert und beim Schlüpfen.

Letztlich entschied sie sich dann aber doch für eine sehr reduzierte Darstellung des Huhnes: In ihrer Arbeit „One Chicken“ hat sie alle 144 Knochen eines Huhnes auf schwarz und in Originalgröße abgelichtet.

horizonte zingst: Wann, warum und wie fiel der Startschuss für Deine Arbeit „One Chicken“?

Manuela Braunmüller: Nachdem ich 2018 mein Fotografiestudium mit einer Arbeit über industrielle Kuhmilch-Produktion abgeschlossen hatte, brauchte ich von dem Thema Tierindustrie eine Pause.

Als ich jedoch ein Jahr später die Serie “Schlachthaus” von York der Knöfel sah, das die Arbeiter von einem Schlachthaus zeigt, wie sie Schweine schlachten und zerlegen, überkam mich erneut der Drang ein weiteres freies Projekt zu diesem Thema zu machen.

Zu Beginn war ich vor allem an der Schlachtung interessiert und wollte Nahaufnahmen von Händen machen, die mit dem Fleisch der Tiere in Kontakt sind, es anfassen und bearbeiten. Dafür suchte ich nach Privatpersonen und Betrieben, die mich das Schlachten fotografisch dokumentieren ließen.

Ich wollte zeigen, dass es am Ende Menschen sind, die für uns die Tiere töten. 2020 begann ich die Meisterklasse der Ostkreuzschule und bekam so einen geeigneten Rahmen für die Realisierung des Projekts.

Wie hast Du Dich dem Thema angenähert?

Bei meiner Recherche über die Tierwirtschaft erfuhr ich, dass es Hühner sind, die mit weltweit über 90 % den größten Anteil der Nutztiere an Land ausmachen. Dass der quantitative Unterschied zwischen den Spezies Hühner zu Schweinen und Rindern so groß ist, hat mir erneut vor Augen geführt, wie ungreifbar die Dimensionen der Tierindustrie wirklich sind.

Anfangs hat das Huhn, rein ästhetisch, in meinem Kopf erst einmal keine Neugierde geweckt. Durch seine Allgegenwärtigkeit in unserer Ernährung und auch durch eine Bilderwelt, die in den meisten Fällen produktbezogen ist, wird das Gegenteil von der Einzigartigkeit und Komplexität des Huhns vermittelt.

Und genau das war die Frage, die ich versuchte fotografisch zu beantworten: Wie kann ich das Huhn in seiner Einzigartigkeit und Besonderheit zeigen? Ich fotografierte also Hühner an unterschiedlichen Orten und Stadien in ihrem Leben.

Mehrmals war ich in einer Brüterei und fotografierte Hühnerküken beim Schlüpfen. Ich porträtierte Hühner in unterschiedlichen landwirtschaftlichen Betrieben und Gnadenhöfen. Auf einem Biohof fotografierte ich die Schlachtung von mehreren Hühnern, in einer Kommune fotografierte ich die Schlachtung von einem jungen Hahn bei Nacht.

In einem Buch erfuhr ich schließlich, dass sich in München, wo ich lebe, eine der größten archäologischen Hühnerknochen Sammlungen der Welt befindet. Meine Neugierde war geweckt und ich fuhr zu der Knochensammlung und fotografierte testweise die Hühnerknochen.

Nach ungefähr einem Jahr Fotografieren hatte ich sehr unterschiedliche formal ästhetische Ansätze, die über Hühner erzählen.

Hühnerknochen

Warum hast Du Dich letztlich dafür entschieden, die einzelnen Knochen zu fotografieren?

Bei dem Thema Massentierhaltung sind wir mit gigantischen Zahlen konfrontiert, die uns eine anonyme Masse nicht wirklich greifbarer machen. Das Skelett vom Huhn bringt uns das Tier auf eine Weise nahe wie wir ihm meistens begegnen: beim Essen. Doch auf dem Teller sehen wir das Huhn in den meisten Fällen als zerhacktes und unvollständiges Tier, ohne beispielsweise seinen Kopf, die Zehen- und Fingerknochen.

Ich wollte das Tier als Individuum in seiner Komplexität ins Zentrum rücken, das sonst in der Masse verloren geht. Jeder Knochen sollte seinen Platz in einem eigenen Bild bekommen, um als etwas Einzigartiges, aber auch als ein Teil von einem großen Ganzen gesehen zu werden.

Diese Art der Darstellung repräsentiert für mich das Huhn in seiner Würde, ohne dabei sein Leid auszuklammern. Das Skelett repräsentiert als essentieller Bewegungsapparat nicht nur Leben, sondern, zumal es nur dann sichtbar wird, wenn seine äußere Hülle fehlt, auch den Tod.

Wie bist Du rein praktisch und fotografisch vorgegangen?

Ich experimentierte mit unterschiedlichen Hintergründen und Lichtsetzungen. Der Knochen auf schwarzem Hintergrund gefiel mir durch den hohen Kontrast am besten. Als Lichtquelle verwendete ich ein LED Panel und eine kleine Aufhellung. So fotografierte ich alle 144 Knochen aus derselben Distanz, um sie in ihrem originalen Verhältnis zueinander zeigen zu können.

Ich arrangierte die einzelnen Knochen so, dass sie so aussehen, als ob sie schweben oder nach oben aufsteigen. Für die Präsentation an der Wand wollte ich dem Huhn den Platz geben, den es verdient, ohne es künstlich aufzublasen. Die Knochen sind genauso groß abgebildet, wie sie es auch in echt sind. Ich wollte, dass man sich selbst beim Betrachten der Bilder in einem ungewohnten Größenverhältnis zum Huhn erlebt.

Was ist Dein Fazit aus der Arbeit?

Nachdem ich so viele Monate mit dem Skelett verbracht habe, sind mir seine Details sehr in Erinnerung geblieben. Es hat mich überrascht, dass ich auch zu einem Tier, das ich nie lebendig gesehen habe, eine starke Verbindung aufgebaut habe.

Durch dieses Projekt sehe ich nicht nur Hühner mit einem anderen Auge, sondern auch alle anderen Vögel. Wenn ich jetzt einen Vogel in der Luft fliegen sehe, muss ich an sein Schlüsselbein denken, dass ihn beim Flug stabilisiert. Auch hat es mir die vielen Gemeinsamkeiten zwischen Wirbeltieren gezeigt und mein Bewusstsein über mein eigenes, menschliches Skelett hat sich erweitert. Es war ein langer Prozess, bis ich am Ende zu diesem reduzierten Konzept gekommen bin. Ich hatte Bedenken, dass diese Art der Darstellung zu eindimensional aufgenommen werden könnte, da dieses Thema für mich sehr emotional ist, aber ich möchte auch lernen diese Kontrolle abzugeben.

Die Bilder lassen mir viel Platz über die Zusammenhänge und Hintergründe bei dem Thema Huhn nachzudenken und meine Hoffnung ist, dass sie das auch für die Betrachtenden tun. Rückblickend zeigt mir die Arbeit, wie wichtig es für mich ist, einen ergebnisoffenen Prozess zuzulassen, bei dem ich mehr einem Gefühl als einer fixen Idee folge.

Das Interview führte Edda Fahrenhorst per E-Mail
Webseiten der Fotografin: http://manuelabraunmueller.com/

„One Chicken“ ist ein Teil der Gruppenausstellung „About Food?“

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