„Urban Farming hält für den Moment nicht das, was es verspricht.” Interview mit de Fotografen Mario Wezel

„Urban Farming hält für den Moment nicht das, was es verspricht.”

"Beim Urban Farming geht es darum, das Bestehende zu hinterfragen und neue Ideen und Möglichkeiten auszuloten. Klar geht es auch um Gemüse aber es geht vor allem um Selbstbestimmung. Es geht darum, dass Menschen ihren Lebensraum so gestalten können wie sie es sich wünschen, dass sie ihren Teils prekären Umständen für eine Weile entkommen können", so der Fotograf Mario Wezel.

Im Interview erzählt Mario Wezel von den Anfängen seiner Strecke, von der Recherche und den Menschen, die er getroffen hat. Und warum er zu dem Schluss kommt, dass Urban Farming zwar die Welt nicht verändern wird, aber durchaus in der Lage ist, hier und da kleine Samenkörner voller Ideen und Gemeinschaft zu streuen, und wer weiss was daraus mal erwachsen wird.

Fotografie Zingst: Wann, wie und warum hast Du mit der Strecke „Urban Farming“ angefangen, was fasziniert Dich daran?

Mario Wezel: Als ich im Jahr 2014 von der Missouri School of Journalism zum „College Photographer of the Year“ gewählt wurde, erhielt ich, wie es allen GewinnerInnen des Wettbewerbs vorbehalten ist, die Möglichkeit eine Hospitanz beim weltberühmten National Geographic Magazine zu absolvieren. Anfang 2015 wurde ich für mehrere Monate Teil des Teams der Bildredaktion in Washington D.C. und erarbeitete mir mit meiner Mentorin Jessie Wender ein Thema an dem ich selbst fotografieren konnte. Die Ideen reichten über den ganzen Globus, am Ende entschieden wir uns aber für „Urban Farming“. Zum einen weil es in der kürze der Zeit eine Vielzahl an Begegnungen ermöglichen wurde, aber auch weil meine Art zu fotografieren, den Menschen in den Fokus zu stellen, ihm empathisch nahe zu kommen, bei diesem Thema besonders gut passen könnte. Zu dieser Zeit gab es einen großen Hype um das Thema in den USA. Für mich, der kleinstädtisch und immer im Bezug zur Natur groß geworden war, löste diese Überhöhung des Gärtnerns erst einmal Befremdlichkeiten aus: was war denn schon besonders daran eine Karotte aus dem Boden zu ziehen? Die meisten meiner Projekte beginnen mit diesem Unverständnis und einer daraus sich erwachsenden Neugier.

Wie bist Du in der Recherche vorgegangen?

Ich recherchierte von Washington D.C. aus Initiativen im ganzen Land. Zu Beginn stand die Frage der Eingrenzung: wo hört „farming“ auf und fängt „urban“ an? Wir wollten keine Kartoffeln im Vorgarten eines Einfamilienhauses zeigen, sondern suchten oftmals nach dem Kontrast zwischen Großstadt und Ackerbau. Trotz dieser Einschränkung wurde die Liste an möglichen Orten und Personen länger und länger. Was uns im nächsten Schritt allerdings in die Karten spielte war die grundlegendste Sache, an die ich nicht gedacht hatte: die Jahreszeiten. Ich startete meine Recherche im Arpil und wollte Anfang Mai loslegen, das Schloss direkt weit über die Hälfte der möglichen Orte und Initiativen aus, weil dort zu dem Zeitpunkt schlichtweg noch nichts wuchs. An vielen Stellen in der Recherche hatte ich das Gefühl, dass sich die Initiativen nach aussen hin größer und interessanter machten als sie es eigentlich waren. Das hat einerseits mit der allgemeinen amerikanischen Tendenz der Überhöhung zu tun, andererseits geht es dabei oftmals um Spendengelder und Fördertöpfe. Bevor ich also die finalen Entscheidungen traf, um sie der Chefredaktion zu präsentieren, nahm ich das Telefon in die Hand und telefonierte eine Initiative nach der anderen ab: wie viel Leute arbeiten bei euch, was genau baut ihr an, wie viel Fläche bewirtschaftet ihr, was ist eure Idee, was wächst jetzt gerade vor deiner Tür, beschreibe mir einen normalen Alltag auf eurer Farm. Die Fragen dienten dazu möglichst viel Informationen zu gewinnen und gleichzeitig alle Eventualitäten auszuschließen. Am Ende hatten wir eine Liste von bestimmt 20 Initiativen von New York bis Los Angeles, von New Orleans bis Boston.

Welche Menschen hast Du getroffen?

Menschen jeglichen Alters, Geschlechts oder Hautfarbe. Gut situierte BürgerInnen genauso wie von Armut betroffene. Im Großen und Ganzen fand ich es überraschend divers. Aber, der große Unterschied lag in der Motivation warum und wie Menschen Urban Farming genutzt haben. Es gab diejenigen für die es eine Art Lifestyle Accessoire war, die es sich leisten konnten und wollten den Rucola vom Hochhausdach zu züchten und zu essen. Besser gestellte, gut ausgebildete Menschen die ich einer urbanen Mittelschicht zuordnen würde. Dann gab es solche die es aus ideolgischen Gründen taten, die gerne näher bei der Natur sein wollten, wissen wollten, woher ihre Nahrung kam und sich mit ihren Urban Farms, Orte innerhalb der Großstädte geschaffen haben die ihnen ein wenig Rückzug vom lauten Alltag ermöglichen. Und dann, und diese Gruppe hat mich am meisten beeindruckt, gab es die Leute, für die Urban Farming der einzige Weg und die einzige Möglichkeit war mit frischen Lebensmitteln in Kontakt zu kommen. Dabei spielte das Phänomen der Food Dessert eine große Rolle: das sind Gegenden, teilweise ganze Viertel, in denen es in einem Radius von mehreren Meilen keine Supermärkte mit frischen Lebensmitteln gibt. Ich konnte es nicht glauben, dass in einem Land wie den USA solche Orte existieren. Aber es gibt sie und zwar häufiger als man denkt. Die Leute dort müssen nicht hungern aber sie müssen extrem weit fahren um an Gemüse und Obst zu kommen. Die Geschäfte in nächster Nähe führen ausschließlich so genanntes „processed food“, also verarbeitetes Essen aus Tetrapacks, Dosen usw. Es gab oftmals das Beispiel, dass Kinder die in Großstädten aufwachsen denken würden, dass Karotten in einer Plastiktüte wachsen oder nicht wüssten, dass Milch von der Kuh kommt. Das hielt ich immer für überzogen aber in gewissen sozialen Gruppen spielt Essen tatsächlich eine solch untergeordnete Rolle, dass es für manche Kinder eine tolle Erfahrung war ihre Hände schmutzig zu machen und das eigene Gemüse aus der Erde zu ziehen.

Und wie bist Du auf die Menschen zugegangen, um sie zu fotografieren?

Das kam immer darauf an wie viel Zeit ich vor Ort hatte. Glücklicherweise profitierte ich bei der Reiseplanung von der Überzeugung der Bildredaktion, dass gute Geschichten und gute Bilder etwas brauchen, was wir in Deutschland bei fast keinem Medium mehr sehen heutzutage: Zeit, Zeit, Zeit. Pro Stadt die ich bereiste verbrachte ich zwischen fünf Tagen und zwei Wochen vor Ort. In der Summe kommt man da schnell auf sechs bis sieben Wochen, die man dafür unterwegs ist. Diese Zeit ermöglichte mir den Leuten nicht nur mit Empathie und Offenheit zu begegnen, sondern vor Allem mit einer Ruhe und einer Gelassenheit die ich sonst selten verspühre. Ich konnte sie einfach sein lassen wer sie waren und das tun lassen was sie immer taten ohne groß intervenieren zu müssen.

Was war Deine denkwürdigste Begegnung?

Das waren zwei Begegnungen die unterschiedlicher nicht sein konnten: Nat Turner war ein ehemaliger High School Lehrer aus New York City der in den Jahren nach Hurricane Katrina immer wieder mit seinen SchülerInnen, Reisen nach New Orleans unternahm, um dort die Leute beim Wiederaufbau zu unterstützen. Irgendwann entschied er sich komplett nach New Orleans umzuziehen und gründete dort auf zwei freien Grundstücken im Lower Ninth Ward eine Farm für Kinder und Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Ein Ort, an dem das Anbauen von Gemüse primär dazu diente, die Jugendlichen davon abzuhalten irgend eine Scheiße zu bauen: Drogen nehmen oder verkaufen, Autos überfallen o.ä. Zeitweise hatten sie es geschafft, gegen alle Widrigkeiten, gegen die Gangs, gegen die krasse Armut und die zerfallenen Häuser, eine Gemeinschaft aufzubauen, einen Ort der Hoffnung. Aber wie viele Farmen kämpften auch sie konstant ums Überleben. Die reine Ackerfläche wirft meistens nicht genug ab, um davon leben zu können, weshalb sie oftmals auf externe Geldgeber oder Spenden angewiesen waren. Als ich zehn Tage in New Orleans fotografierte überlebte ich eben die Kehrseite der Medaille: Frust, wenig Geld und kaum Perspektive. Wenn das als Extrem in der einen Richtung gesehen wird, kann man meine Begegnung mit Calep Harper und seinem Team am MIT in Boston als das andere Extrem begreifen. Dort wurde an der Zukunft geforscht. Wie kann es uns gelingen, Gemüse im inneren von Gebäuden anzubauen? Wie kann man Sonne imitieren, wie verbessert man die Bewässerungssysteme. Die Hingabe der jungen ForscherInnen war beeindruckend, genauso wie die durchsichtigen Schiffscontainer voller Tomaten.

Was ist der Unterschied zwischen dem US-amerikanischem „Urban Farming“ und dem deutschen Schrebergarten?

Das Bundeskleingartengesetz (BKG), die Bibel der deutschen SchrebergärtnerInnen. 1,60 Meter Heckenhöhe, wenig bis keine Nutzbäume, all diese Regeln sind dem Urban Farming fremd. Dort geht es viel eher darum, das Bestehende zu hinterfragen und neue Ideen und Möglichkeiten auszuloten. Klar geht es auch um Gemüse, aber es geht vor allem um Selbstbestimmung. Es geht darum, dass Menschen ihren Lebensraum so gestalten können wie sie es sich wünschen, dass sie ihren Teils prekären Umständen für eine Weile entkommen können. Urban Farming hilft Gefangenen dabei zu meditieren, es hilft Hippies dabei ihr Marihuana anzupflanzen, den Homesteaders dabei genügend Eier fürs Omelette zu haben, hilft Kindern dabei die Möhre aus der Erde zu ziehen und wer weiß, vielleicht schaffen es die WissenschaftlerInnen ja noch den Trend in eine echte Versorgungsalternative umzudrehen. Schrebergarten ist Freizeit, ist Heimat, ist Gemütlichkeit und inzwischen vielleicht ein wenig diverser, aber es ist auf jeden Fall noch ein Ort an dem Veränderung kaum gewünscht ist. Allein darin unterscheiden sich die beiden Orte grundlegend.

Und was ist Dein ganz persönliches Fazit aus der Arbeit?

Ich habe festgestellt, dass Urban Farming für den Moment nicht das hält, was es verspricht: Nahrungsproduktion für die Stadt bleibt vorerst vor den Toren der Großstädte. Es ist auch nicht alles Gold was glänzt: viele der Farmen entpuppten sich als trockene Felder irgendwo in der Stadt. Aber immer wieder, und das stimmte mich am Ende sehr positiv, erlebte ich auf den Farmen diesen amerikanischen Pioniergeist: nur weil es bisher noch keine Farm auf dem Hochhaus gab, heißt es nicht, dass es das nicht geben könnte. Ich habe erlebt, wie Jugendliche voller Begeisterung über gesunde Ernährung sprechen, Menschen zusammen kommen und das frischgeerntete gemeinsam Essen an langen Tischen teilen. Urban Farming wird nicht die Welt verändern, aber es kann hier und da kleine Samenkörner voller Ideen und Gemeinschaft streuen, und wer weiss was daraus mal erwachsen wird.p>

Das Interview führte Edda Fahrenhorst.

Website des Fotografen: www.mariowezel.com

Foto-Newsletter Bestellen

Nie wieder interessante Artikel zur Fotografie und einmalige Fotokurse verpassen!:
Mit Ihrer Eintragung akzeptieren Sie unsere Datenschutzerklärung. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.
Menü