„Ich habe die Chronologie des Falles in die Fotografie transformiert.“ Interview mit dem Fotografen Klaus Pichler

„Ich habe die Chronologie des Falles in die Fotografie transformiert.“

Klaus Pichler bezeichnet seinen fotografischen Ansatz als 'spekulative Dokumentarfotografie', also 'so könnte es gewesen sein', wobei alles natürlich hochgradig subjektiv geprägt ist. Dazu hat sich der Fotograf Einblick in alle Phasen der Geschichte rund um die orangene Petunie verschafft: Die Zeit des Freilandexperiments 1990, die Flucht aus dem Labor danach und die zufällige Entdeckung der transgenen Petunien im Jahr 2015 mit den bekannten Folgen.

Wie er auf den „Fall“ gestoßen ist, ihn in die Fotografie übertragen hat und welchen Schluss er aus seinem Projekt zieht, erzählt Klaus Pichler im Interview.

Fotografie Zingst: Wie, wann und vor allem warum begann Deine Arbeit an dem „Petuniengemetzel“?

Klaus Pichler: Ich bin kurz vor dem ersten Lockdown 2020 durch Zufall in einem Magazin auf einen Artikel über den kuriosen Fall der orangen Petunien gestolpert und ich habe mir gedacht, dass die ganze Geschichte sehr eigen und seltsam ist, und doch sehr viele relevante Themen und Fragen beinhaltet. Das war der Ausgangspunkt zur Frage, ob es sich lohnen würde, darüber eine fotografische Arbeit zu machen, und je weiter ich mich in den Fall vertieft habe, desto begeisterter wurde ich von der Geschichte mit den vielen unerwarteten Wendungen und der Historie, die bis ins Jahr 1990 zurückreicht.

Im Laufe der Recherche hat sich immer mehr herauskristallisiert, dass die große Frage, die im Fall aufgeworfen wird, die Frage ist, wann etwas 'natürlich' und ab wann etwas 'künstlich' ist - sind genmanipulierte Petunien Geschöpfe der Natur, denen der Mensch etwas hinzugefügt hat, oder sind es künstliche Gebilde, die in dieser Form nicht vorkommen? Das ist eine Frage, die sich im aktuellen Stand der Pflanzenzüchtung und auch Nahrungsmittelproduktion, wo alles optimiert, vieles patentiert und einiges auch genmanipuliert ist, in sehr vielen Bereichen stellt. Die Diskussionen darüber sind meistens sehr dogmatisch und ernsthaft, leidenschaftliche Gegner:innen bekriegen sich mit leidenschaftlichen Befürworter:innen - dem wollte ich etwas entgegensetzen, das mit dem Thema spielerisch umgeht und klarmacht, dass alle Pflanzen, die für menschliche Zwecke gezüchtet werden, Produkte einer gigantischen Industrie sind und auch so behandelt werden sollen.

Wie bist Du in der Recherche vorgegangen?

Zu Beginn ging es mir darum, die gesamte Chronologie des Falles zu recherchieren und zu verstehen, durch welche Stadien die tranigeren Petunien gingen, bevor sie durch ihre 'Flucht aus dem Labor' in der industriellen Pflanzenzüchtung landeten und schließlich 2017 weltweit vernichtet werden mussten. Ich habe daher versucht, mit möglichst vielen Menschen, die in den Fall der orangen Petunien irgendwie involviert waren, in Kontakt zu kommen und mit ihnen Interviews zu führen, in denen sie mir ihre Erinnerungen und Sichtweisen schilderten. Außerdem habe ich in Zeitschriftenarchiven nach Artikeln gesucht, die über das Freilandexperiment mit den orangenen Petunien im Jahr 1990 in Köln berichteten, und mit Institutionen, Firmen und Einzelpersonen Kontakt aufgenommen, über die ich im Laufe der Recherche gestolpert bin. So hatte ich mit der Zeit einen Einblick in alle Phasen der Geschichte - also die Zeit des Freilandexperiments 1990, die Flucht aus dem Labor danach und die zufällige Entdeckung der transgenen Petunien im Jahr 2015 mit den bekannten Folgen. Ich habe, um einen Überblick zu bewahren, mit einem Storyboard gearbeitet, wie man es aus der Filmproduktion kennt, und jedes Detail, das ich herausgefunden habe, dort eingezeichnet. Dieses Storyboard war dann eine Art 'Projektdokument', das mir half, auf der wahren Chronologie des Falles meine Serie aufzubauen.

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Und wie in der Fotografie?

Die große Herausforderung war, die Chronologie des Falles so in die Fotografie zu transformieren, dass daraus etwas eigenständiges entsteht, das gleichermaßen 'wahr' wie 'falsch' ist - dass also jedes Bild zumindest einen wahren Kern hat, wobei einige historische Bilder tatsächlich authentisch sind. Ich würde meinen fotografischen Ansatz als 'spekulative Dokumentarfotografie' bezeichnen, also 'so könnte es gewesen sein', wobei alles natürlich hochgradig subjektiv geprägt ist. Das Storyboard der Chronologie war für den Schritt, die Geschichte in Fotografie umzuwandeln, sehr hilfreich, weil ich alles in beliebig kleine oder große Schnipsel zerlegen konnte, die ihrerseits durch ihren Inhalt wieder Ansätze dafür gaben, welche Bilder man daraus machen könnte. In der Umsetzung war manches davon recht einfach, weil ich historische Originalmaterialien zur Verfügung hatte, in anderen Fällen musste ich alle Materialien besorgen, die ich für die Nachstellung oder Inszenierung eines bestimmten Bildes brauchte, und es dann fotografieren. Oft habe ich die Fotos dann in gefakte Zeitungslayouts oder andere vermeintlich authentische Materialien (Farbtafeln, wissenschaftliche Tabellen etc.) eingebaut, die ich davor digital gebaut hatte.

In Summe war das ganze Projekt also eine Ansammlung von vielen kleinen Einzelprojekten, in die ich mich jeweils so vertiefen musste, dass das Resultat dann 'authentisch' aussieht. Ich schätze, dass ich ungefähr drei Mal so viele Bilder, wie dann im Buch vorkommen, inszeniert habe, weil es mir oft nicht gelungen ist, das erwünschte Resultat zu erreichen oder die Bilder nicht glaubwürdig (oder bewusst unglaubwürdig) genug gewirkt haben, um der Erzählung zu dienen.

Deine Arbeit spielt mit Realitäten, daraus erzeugten Fake News und zurück - was hat es damit auf sich?

Die zentrale Frage im Projekt war, wie oben schon angesprochen, bis wann etwas natürlich und ab wann etwas künstlich ist - umgelegt also, ob etwas 'wahr' oder 'falsch' ist. Und umgelegt auf die Zerstörung der orangenen Petunien, die ja ohne Zulassung in den Handel kamen, also 'illegale' Blumen waren und deshalb zerstört werden mussten, ob die Vernichtung ein Akt ist, der das 'Recht' wieder herstellt oder ob es ein bloßer Akt der Zerstörung bleibt, bei dem 'unschuldige' Blumen vernichtet werden.

Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich das eigentlich selber sehe und bin zu keinem Ergebnis gekommen, das nicht zumindest einen Widerspruch beinhaltet - das war für mich dann der Anstoß, das Thema auf eine ganz andere Ebene zu heben und mit den obigen Fragen zu spielen, anstatt sie zu beantworten. Dadurch, dass die eigentliche Geschichte schon so unglaubwürdig ist, war es dann eine Freude, den wahren Kern so aufzubereiten, dass man sich denkt, dass das unmöglich wahr sein kann, was ja eigentlich stimmt und dann doch wieder nicht. Meine Intention war, dass man - egal ob man die Geschichte oder die Bilder als wahr oder falsch ansieht - am Ende noch um einiges verwirrter als davor ist, dann im Internet recherchiert und feststellt, dass sich die ganze Geschichte so oder ähnlich ereignet hat. Um das zu erreichen, war mein Ansatz so, dass alles, das im Projekt authentisch ist, 'fake' aussehen muss, und alles, dass ich selbst erschaffen habe, dann wieder 'echt' aussehen muss - dieses Spiel mit Realität und bewusst übertrieben eingesetzten Fake News war ein großes Vergnügen, muss ich gestehen.

Wie waren und sind die Reaktionen auf Deine Arbeit?

Was mich besonders gefreut hat, war, dass mir viele Menschen, die in den 1990er Jahren in irgendeiner Form beim Petunienexperiment (immerhin das erste Freilandexperiment mit genmanipulierten Pflanzen überhaupt) beteiligt waren, geschrieben haben oder ein Buch bestellten. Dabei ergaben sich auch im Nachhinein noch interessante Diskussionen oder ich bekam Bildmaterial zugesandt, das sich auch im Buch gut gemacht hätte. Außerdem freue ich mich, dass das Projekt so verstanden wurde, wie ich es gemeint habe - nämlich einerseits als Einladung, um über Fragen, die sich durch unseren Umgang mit der Natur stellen, nachzudenken, und andererseits auch als Serie, die einfach Spaß machen soll. Kritische Diskussionen gab es nur eine Handvoll, wobei ich auch diese Auseinandersetzungen immer als bereichernd empfunden habe, weil es mich interessiert, aus welchem Antrieb heraus, Menschen so heftig auf das Thema Gentechnik reagieren.

Wie schaust Du selber mittlerweile auf das Projekt?

Zunächst einmal staune ich, wenn ich mir ansehe, was für einen Aufwand ich betrieben habe, um die Fotos zu inszenieren – ich glaube, dass sich das mit der vielen frei gestaltbaren Zeit, die sich durch die Lockdowns ergeben haben, erklären lässt, wobei mich das Projekt über eine Zeit gerettet hat, die ohne diese Vertiefung ins Thema bestimmt um einiges schwieriger zu bewältigen gewesen wäre.

Ich mag das Projekt immer noch sehr, weil ich mich gerne an die Momente diebischer Freude erinnere, die mir das Faken von Bildern und Layouts bereitet hat und ich den Prozess von der sehr ernsthaften Recherche hin zu einer spielerischen Aufbereitung sehr genossen habe. Inhaltlich bin ich nach wie vor bei ähnlich gelagerten Themen, die den menschlichen Umgang mit der Natur behandeln, wobei ich sagen muss, dass sich in den letzten Jahren bei der Wahl der fotografischen Ansätze eine gewissen Ernsthaftigkeit eingestellt hat und ich die Ironie immer mehr draußen lasse. Die Themen der letzten Jahre, von Klimakrise, Covid bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine etc., haben mich ernster werden lassen und auch meine fotografische Perspektive politisch aufgeladen.

Das Interview führte Edda Fahrenhorst.

Website des Fotografen: klauspichler.net/

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