"Es lohnt sich mal genauer hinzuschauen…" Florian W. Müller – Neglect

"Es lohnt sich mal genauer hinzuschauen…"

Die Trilogie „Neglect“ des Kölner Fotografen Florian W. Müller beschäftigt sich mit faszinierenden Tierwelten. Und damit, wie es der Mensch trotz besseren Wissens und trotz der Unheil verkündenden Prognosen um den Zustand der Erde immer weiter versäumt, das Gleichgewicht der Natur für ebenjene Tierwelten zu erhalten.

Die Ausstellung "Neglect" ist vom 01.10.2021 bis 15.12.2021 in der Leica Galerie Zingst zu sehen. Was es mit dem Titel der Ausstellung auf sich hat und wie Florian W. Müller fotografisch vorgegangen ist, erzählt der Kölner Fotograf im Interview.

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Fotografie Zingst: Florian, „Neglect" ist der Titel Deiner Trilogie - warum?

Florian W. Müller: Neglect ist ein Begriff aus der Neurologie und bezeichnet eine Aufmerksamkeits- bzw. Wahrnehmungsstörung, häufig in Folge eines Schlaganfalles. Betroffene nehmen dann, meist auf eine Seite beschränkt, Dinge nicht mehr wahr, obwohl sie sie sehen. Sie sehen beispielsweise den Stuhl auf der linken Seite zwar vor sich, laufen trotzdem dagegen. Die betroffenen Patienten sind sich meistens ihrer Defizite nicht bewusst und empfinden ihr Verhalten zunächst als normal. Ich habe diesen Titel gewählt, weil ich abstrakte Parallelen dazu im Verhalten vom Menschen zur Umwelt sehe. Klimaziele werden verschoben oder nach oben korrigiert, weil andere (wirtschaftliche) Ziele Vorrang haben. Es werden Naturschutzgebiete zugunsten Abbaumaßnahmen und Förderungen verkleinert oder ausgegeben. Und das ganze trotz besseren Wissens, trotz wissenschaftlicher Prognosen und gegen den „gesunden“ Menschenverstand. Das Ökosystem der Erde ist stark, widerstandsfähig und kann sich regenerieren. Bis zu einem gewissen Punkt. Denn es ist gleichzeitig fragil, eine raum-, länder- und sogar Kontinent übergreifende Verzahnung und Abhängigkeit. Wenn wir dieses fragile System, unsere Natur, weiterhin so behandeln, wie wir es tun, dann bleiben bald vielleicht nur noch solche präparierten Tiere um eine einst bunte, faszinierende und vielfältige Tierwelt zu bewundern.

Wie sind die jeweiligen Serien ausgestaltet und warum gehören sie zusammen?

Die Serie ANIMA entstand als erstes, ich durfte nachts im naturhistorischen Museum Senckenberg in Frankfurt fotografieren. Das war immer ein Wunsch von mir. Nachts, allein (mit Unterstützung von David Schütte) und mit minimalem, von mir gesetztem Licht. Diese Serie soll anschaulich zeigen, dass tatsächlich einige der Tiere bereits verschwunden, ausgestorben sind. Wie der Dodo zum Beispiel. Oder das Moschustier, das aufgrund der Jagd auf das für die Parfumproduktion und traditionelle chinesische Medizin wertvolle Moschus, als stark gefährdet eingestuft wird. Die sehr dunklen Bilder sollen genau dies zeigen: Es ist fast nichts mehr von ihnen zu sehen.

Zu SAMSA: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. ”Franz Kafka Inspiriert von der Novelle „Die Verwandlung“ von Franz Kafka, der Geschichte des Handelsreisenden Gregor Samsa, der eines Morgens erwacht und sich auf unerklärliche Weise in ein riesiges Insekt verwandelt, habe ich farbintensive und traumhafte Insektenbilder geschaffen. Ich glaube es ist kein Spoiler, wenn ich verrate, dass er am Ende der Geschichte tot ist, abgelehnt und vernachlässigt von der eigenen Familie, die sich vor ihm geekelt hatte und ich nicht mehr verstehen konnte. Das ist zugegeben ein weiter Brückenschlag zu meiner Serie, aber ich möchte mit den Bildern auch ein wenig von der manchmal bizarren Schönheit der Insekten zeigen, damit der Betrachter sie vielleicht mal mit anderen Augen sieht. Denn das Insektensterben ist sehr real und keine ausgedachte Geschichte. An dieser Stelle möchte ich meinen herzlichen Dank an das Deutsche Entomologische Institut Senckenberg ausdrücken, das mich sehr herzlich aufgenommen hat und wo ich großartig in meiner Arbeit unterstützt wurde.

Und letztlich IKARUS: Wir kennen die Sage Ikarus, dessen Vater Daedalus für sich und seinen Sohn Flügel aus Federn und Wachs baute um aus der Gefangenschaft des Minos auf Kreta zu fliehen. Der Sohn Ikarus wurde übermütig, das Wachs schmolz und er stürzte ins Meer. Trotz der Warnungen seines Vaters. Auch hier wieder die Parallelen: Trotz Warnungen und Mahnungen schrauben wir uns in immer höhere und wärmere Gefilde, der Absturz ist nicht mehr weit entfernt. Ok, das ist vielleicht etwas drastisch und plakativ dargestellt. Auch hier sind Präparate von Tieren fotografiert, die teilweise gefährdet sind oder die es nicht mehr gibt. In der Malerei wird der „törichte“ oder „übermütige“ Mensch gerne als Ikarus dargestellt.

Wie hast Du Zugang zu den jeweiligen Sammlungen bekommen?

Ich habe gefragt. Ich habe den Hintergrund meiner Absicht und der Serien erklärt und bin recht schnell auf interessierte Ohren gestoßen. Allen voran der Leiter des entomologischen Instituts, Prof. Dr. Thomas Schmitt, fand es großartig, dass sich mal jemand für die Käfer und andere Insekten interessiert, der nicht wissenschaftlich arbeitet.

Für die Unterstützung bei der Textarbeit danke ich den beteiligten Personen aus folgenden Instituten:

ANIMA: Anna Lena Schnettler (Pressereferentin) und Judith Jördens (Leitung Pressestelle) von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (Museum für Naturkunde, Frankfurt a.M.)

SAMSA: Prof. Dr. Thomas Schmitt (Institutsleiter) und Mandy Schrött (Technische Mitarbeiterin) vom Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut

IKARUS: Dr. Martin Päckert, Sektionsleiter Ornithologie der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden

Wie bist Du vor Ort jeweils fotografisch vorgegangen?

Im Museum in Frankfurt habe ich nachts vom Stativ durch die Scheiben der Schaukästen fotografiert, mit einem LED-Licht und der Leica SL mit dem APO-Summicron-SL 1:2/90 ASPH. Ich hatte insgesamt 4-5 Stunden Zeit, was recht knapp ist, durch mehrere Besuche vorher wusste ich jedoch, was ich fotografieren wollte. Trotzdem hätte ich noch ein paar Stunden anhängen können. Vielleicht komme ich wieder.

In Brandenburg bei den Käfern war es ein kleines Studio, bestehend aus einer selbst gebauten Table-Top Hohlkehle und zwei LED-Dauerleuchten. Damit die Tiere möglichst wenig angefasst werden und frei schweben können, habe ich mir eine Art Podest aus Kork und einem Magnet-System gebaut. So musste ich nachher auch so gut wie nicht freistellen.

Fotografiert habe ich mit einer Leica SL2 und dem APO-Macro-Summarit-S 1:2.5/120 (CS) mit Adapter auf die SL2. Die finalen Bilder habe ich dann mit dem neuen Multishot Verfahren aufgenommen, was mir Bilder mit 187 MP beschert hat. Ich habe bewusst nicht gestacked, da so ein schier nicht zu bewältigendes Datenvolumen aufgelaufen wäre, außerdem wollte ich gezielt Bilder mit Unschärfebereichen um weniger technisch perfekte Bilder als eher portraithafte und stimmungsvolle Bilder zu kreieren.

Die Käfer bringen selbst häufig die tollsten Farben und Changierungen mit. Diese Brillanz geht jedoch im Laufe der Jahre flöten, sie werden etwas stumpfer. Ich habe im Nachgang einiges an Farbe dazugegeben, häufig um die ursprüngliche Farbigkeit zu unterstreichen, manchmal jedoch auch um einen Effekt zu erzielen, den es so in der Natur nicht gibt. Was zu unterhaltsamen Gesprächen am Bild führt. Zum Beispiel Samsa No. 2 – Sternocera Castanea, da denken viele, dass dieser blaue Panzer mit den gelben Pelzmustern farblich stark bearbeitet wäre, ist er aber gar nicht, bzw. ich habe mich an der Originalfärbung orientiert. Samsa No.1 – Cathedra Serrata dagegen ist in Natur farblich eher unscheinbar bräunlich. Die Vögel erscheinen ja mit Makro-Aufnahmen ihres eigenen Gefieders, hier ist es eine Montage von Nah-Aufnahmen der Federn und freigestellten Portraits der Vögel. Auch wieder mit Hilfe der selbstgebauten Tisch-Hohlkehle und zwei Lampen.

Hast Du ein Bild, was Du besonders magst?

Natürlich mag ich alle Bilder gleich gern. Aber besonders ins Herz geschlossen habe ich den Dodo aus der ANIMA-Serie, weil er gleichzeitig erhaben, ernst, würdevoll und anklagend guckt. Auch das Moschustier mag ich sehr gerne, da es fast unwirklich aussieht mit seinen langen Eckzähnen. Fast wie ein Wolpertinger. Bei den Käfern ist es die Nummer 2, Sternocera Castanea, weil dieser Käfer geradezu winzig ist. Schaut man genauer hin, trägt er eine Art Pelz mit verschiedenen Farben. Genau was ich zeigen möchte: Es lohnt sich mal genauer hinzuschauen…

Das Interview führte Edda Fahrenhorst per E-Mail.

Alle Bilder: Florian W. Müller

Website des Fotografen: www.florianwmueller.com

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