Fast hätte die Fotografin Lia Darjes die Schönheit und Ursprünglichkeit der kleinen Marktstände Kaliningrads links liegen gelassen.
Denn eigentlich war sie in der Zeit ihres Künstlerstipendiums auf der Suche nach einem greifbaren fotografischen Thema. Dazu durchstreifte sie die Städte, Dörfer und malerischen Landschaften der Gegend und sah immer wieder die kleinen Marktarrengements, wo alte Frauen und Männer die bescheidene Ernte ihres Gartens oder des benachbarten Waldes zum Kauf anbieten, um ihre Rente aufzubessern.
Warum sie sich entschieden hat, diese Marktstände letztendlich doch noch zu fotografieren, wie sie auf die Menschen zugegangen ist, und welches Fazit die Fotografin persönlich aus der Strecke zieht, verrät sie im Interview.
horizonte zingst: Wann und wie bist Du auf die Straßenmärkte aufmerksam geworden?
Lia Darjes: Im Herbst 2014 lud mich das Künstlerhaus Lukas für eine Künstlerresidenz nach Kaliningrad ein. Die russische Exklave zwischen Polen und Litauen – ehemals Ostpreußen – blickt zurück auf eine chaotische Vergangenheit, die in der Region auf eigentümliche Weise konserviert ist. Die Architektur ist teils deutsch, teils sowjetisch.
Einen Monat lang machte ich Streifzüge durch die Städte, Dörfer und wunderschönen Landschaften auf der Suche nach einem greifbarem fotografischen Thema. Und immer wieder sah ich die kleinen Marktarrengements an den Straßenrändern und Kreuzungen wo alte Frauen und Männer die bescheidene Ernte ihres Gartens oder des benachbarten Waldes zum Kauf anbieten, um ihre Rente aufzubessern. Erst ganz am Schluss meiner Zeit in Kaliningrad habe ich mich durchringen können, mich diesem unaufgeregtem Thema zu widmen.
Was hat Dich daran gereizt?
Die Aura der Waren und die Art ihrer Darbietung faszinierten mich so sehr, dass ich 2016 insgesamt viermal nach Kaliningrad reiste, um sie in einer Stillleben-Studie zu dokumentieren. Diese Arrangements erinnerten mich an die Motive der klassischen Tradition des barocken Marktstilllebens und sie erweckten durch ihre Einfachheit die Sehnsucht in mir nach einer weniger komplexen Welt. Gleichzeitig stört die Materialität der Verpackungen, Tische und Tischdecken diesen lieblichen Gesamteindruck.
Eine scheinbar romantische Ursprünglichkeit trifft auf die Banalität und Rauheit des Alltags im Kaliningrad des 21. Jahrhunderts, wobei sich der gefühlte Rückgriff auf eine mythisch-stillgestandene Zeit – eine Art simulierte Erinnerung – für mich bezeichnenderweise erst in der Fotografie selbst manifestiert und im Moment des Fotografierens noch nicht vorhanden ist.
Und wie bist Du auf die Menschen zugegangen?
Bei jeder Reise hatte ich russischsprachige Freunde als Assistenz dabei. Das hat geholfen. Aber am Anfang war es erstaunlich schwer, die Menschen zu überzeugen, mich ihre Marktstände fotografieren zu lassen. Es gab die Sorge ich würde ein negatives Gesamtbild zeigen.
Mit jeder Reise wurde es einfacher, weil ich schon Bilder im Gepäck hatte. Die Verkäuferinnen und Verkäufer haben dann verstanden, dass ich nichts Negatives vorzeigen will. So wie auf meinen Fotografien wollten sie ihre Waren auch gesehen wissen. Erst auf der vorletzten Reise habe ich mit den Porträts begonnen.
Wie hast Du Dich der – letztlich sehr konsequenten – bildnerischen Umsetzung angenähert?
Es ist ja eine technische Spielerei, die ich hier anwende, die mir erlaubt, den Vordergrund fast ganz aus seinem Kontext herauszunehmen ohne etwas physisch bewegen zu müssen. Man nennt es die amerikanische Nacht: Tatsächlich sind die Bilder ja tagsüber entstanden, aber ich habe die Bilder unterbelichtet und mit dem Blitz den Vordergrund ausreichend wieder aufgehellt.
Für mich ist die erste Phase eines Projektes oft die schwierigste und längste. Die Phase in der ich eine konsequente Bildsprache entwickle, die eine Verbindung mit dem Gezeigten eingehen kann. Es hat fast zwei Jahre gebraucht, bis ich endlich entscheiden konnte wie ich diese Stillleben fotografieren möchte.
Gibt es für Dich ein ganz persönliches Fazit aus der Strecke?
Ich konnte mit dieser Arbeit meiner Leidenschaft für das Genre des Stilllebens nachkommen. Das Stillleben wird in der zeitgenössischen Dokumentarfotografie meist nur als ein Fragment eines komplexeren Narratives genutzt. Eigenständige Stilllebenarbeiten gibt es selten. Das hatte ich bis dahin auch für meine eigenen Arbeiten so akzeptiert. ‚Tempora Morte‘ hat das für mich verändert und ich arbeite jetzt bewusster an dokumentarischen Stilllebenarbeiten.
Inhaltlich ist die Sehnsucht geblieben. Selten habe ich so prächtige Tulpen gesehen und so köstliches Eingemachtes gegessen. Ich verbeuge mich vor den Männern und Frauen, die sich mithilfe dieser unkomfortablen Mikroökonomie materiellen und sozialen Herausforderung stellen.
Das Interview führte Edda Fahrenhorst per E-Mail
Website der Fotografin: http://www.liadarjes.com
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